Der Ökonom des "kleinbürgerlichen Sozialismus"
Jean--Charles Léonard Simonde de Sismondi (1773 -- 1842) war seiner Herkunft nach keineswegs ein "Schweizer Kleinbürger", wie der marxistische Soziologismus seit Rosa Luxemburg und Lenin lautet. Er stammte aus der wohlhabenden und einflussreichen Genfer Bürgerfamilie Simonde; sein Vater war Mitglied des "Rates der Zweihundert" und der Stadtregierung. (Auch Sismondi selbst beschritt die Laufbahn eines Genfer Politikers, wenn auch wenig erfolgreich.) Zu seinen Jugendfreunden zählten Benjamin Constant (de Rébecque) und Albert Gallatin.
Sismondi besuchte keine Universität, sondern machte eine
kaufmännische Lehre bei dem Bankhaus Eynard & Cie in
Lyon. Seine späteren umfangreichen Kenntnisse, die ihm einen
Lehrstuhl einbrachten, erarbeitete er sich als Autodidakt.
Als die französische Revolution über Genf hereinbrach, floh
die Familie Simonde nach England; ein Teil ihres Vermögens
wurde beschlagnahmt. Von dem Rest kaufte Simonde ein Landgut
in der Toskana, "Il podere di Valchiusa" bei Pescia.
Vater und Sohn Simonde gerieten mehrmals zwischen die Fronten der Revolutionskriege, von den Franzosen als "Konterrevolutionäre" und von den Österreichern als "Franzosen" verdächtigt. Simonde Sohn legte sich in dieser Zeit den Beinamen "de Sismondi" zu, nach einem ausgestorbenen Pisaner Adelsgeschlecht.
Unter Napoleon war er "Sekretär der Handelskammer des Departements Léman" (Genf); seine frühen ökonomischen Schriften weisen ihn als Anhänger von Adam Smith, Liberalen und Freihändler aus. Er gehörte zum Freundeskreis von Madame de Stael und damit zur liberalen Opposition des Kaiserreichs. Er verfasste neben seinen ökonomischen Werken eine monumentale "Geschichte der italienischen Republiken im Mittelalter", eine "Geschichte der Franzosen" und eine "Geschichte der Literatur Südeuropas". Während der "Hundert Tage" ergriff er die Partei Napoleons, was zu seiner politischen Isolierung beitrug.
Er verstand sich wohl zeitlebens als Liberaler, doch unter dem Eindruck der katastrophalen Wirtschaftskrisen von 1815 und 1818 ging er zunehmend eigene Wege. Er wies seine ökonomischen Glaubensgenossen darauf hin, dass Waren nicht nur produziert, sondern auch verkauft werden müssen und zu niedrige Löhne die Nachfrage senken.
Im Zusammenhang mit der Kritik der politischen Ökonomie ist insbesondere sein Spätwerk "Nouveaux Principes de l'Économie Politique" (1819) von Bedeutung.
"Die Geschichte der
modernen politischen Ökonomie endet mit Ricardo und
Sismondi, Gegensätze, von denen der eine englisch, der
andere französisch spricht, ganz wie sie am Ende des 17.
Jahrhunderts beginnt mit Petty und Boisguillebert."
(Karl Marx, Bastiat und Carey, MEW Bd. 42, S.20)
Karl Marx hat sich bei seiner Kritik der politischen
Ökonomie wesentlich auf Sismondi gestützt.
Sismondis wissenschaftliche Bedeutung ist unbestritten, doch steht er nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses. Den Vulgärökonomen war er seit jeher zu "pessimistisch" (so bereits List); die Sozialisten fanden in Marx einen Ökonomen, der nicht nur den Kapitalismus kritisierte, sondern den Sozialismus zum Ziel der Geschichte erklärte.
Lenin bezeichnete die Theorie Sismondis als "ökonomische
Romantik". ("Pour
charactériser le romantisme économique. Sismondi et
nos sismondistes nationaux.") Gegenstand seiner
Monographie waren allerdings mehr seine russischen Gegner.
Rosa Luxemburg war die letzte namhafte Marxistin, die sich
intensiv mit Sismondi befasste. ("Die Akkumulation des Kapitals." (1912))